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Argumentation für sexualpädagogische Workshops durch externe Expert*innen/Vereine

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Argumentation für sexualpädagogische Workshops durch externe Expert*innen/Vereine

Angesichts aktueller Entwicklungen in Österreich haben wir uns als Vereinsvorstand dazu entschlossen, folgende Stellungnahme publik zu machen:

 

Gemäß dem Erlass für Sexualpädagogik haben Schüler*innen das Anrecht auf wissenschaftlich korrekte Informationen im Bereich der menschlichen Sexualität. Sie sollten altersadäquat und auf dem Stand der pädagogischen Entwicklung vermittelt werden. Soweit gibt es einen breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens. Bei der tatsächlichen Ausgestaltung jedoch gibt es große Unterschiede in den Vorstellungen und Ideen.

In der vorliegenden Stellungnahme erläutern wir folgende Punkte:

  • Qualifikation
  • Praktische Grenzen der Lehrkräfte
  • Praktische Grenzen der schulischen Strukturen
  • Anonymität/Unvoreingenommenheit
  • Expert*innen auf ihrem Gebiet
  • Diskussionsfreiräume
  • Vertrauensprinzip

Außerdem formulieren wir im Anschluss einen Vorschlag für die weitere Vorgehensweise für sexualpädagogisch tätige Personen und Vereine.

 

Ein wesentlicher Punkt, warum es in unseren Augen so starke Unterschiede in der Umsetzung des sexualpädagogischen Auftrags gibt, ist die Vorstellung darüber, wie so ein Workshop abläuft. Dazu muss man wissen, dass es in einem sexualpädagogischen Workshop keine Übergriffe gibt, jedenfalls dann nicht, wenn er von qualifiziertem Personal geplant, durchgeführt und auch supervisorisch durch eine erfahrene sexualpädagogisch ausgebildete Person nachbearbeitet wird. Diese Kompetenz ist am ehesten bei sexualpädagogisch ausgebildeten (und damit ist nicht ein vierwöchiger Kurs gemeint!) und insgesamt von Pädagog*innen oder Psycholog*innen sowie anderen Personen, die eine fundierte Ausbildung in sozialwissenschaftlichen Studien oder pädagogischen Berufen vorweisen können oder sich in ihr befinden, zu erwarten.

Natürlich sind Lehrkräfte ebensolche pädagogisch ausgebildeten Personen, allerdings sind sie nicht automatisch sexualpädagogisch ausgebildet und jede Lehrkraft hat ihren eigenen für sie wichtigen Schwerpunkt. Auch Biologie-, Ethik-, Deutsch- und Religionslehrpersonen haben nicht automatisch einen sexualpädagogischen Schwerpunkt, auch wenn nun von ihnen erwartet wird, hier die „eierlegende Wollmilchsau“ zu sein. Lehrpersonen sind heute nicht einfach nur noch die frontalvortragenden Vorbilder, sie sind Ansprechpersonen für die persönlichsten Bereiche ihrer Schüler*innen, sie erfüllen sozialpädagogische und sozialarbeiterische Aufgaben. Es ist einfach unzulässig und auch ungerecht, ihnen nun auch noch sämtliches Spezialwissen (und die Sexualpädagogik ist nur einer von mehreren Themenbereichen) und die Durchführung möglichst zielgruppengerechter Workshops abzuverlangen. Nicht nur, dass der Lehrplan ohnehin sehr dicht ist und jedes Jahr mehr von Lehrkräften und Schüler*innen verlangt, es kann von niemandem erwartet werden, über Spezialwissen für sämtliche Themen zu verfügen.

Ein weiterer, sehr häufig vorgebrachter Grund, der für das Einsetzen externer Expert*innen spricht, ist die Anonymität. Sexualpädagog*innen gehen in die Schulen, Jugendzentren, Wohngemeinschaften und andere Einrichtungen als Fremde. Sie kennen die Schüler*innen, Bewohner*innen, Teilnehmenden nicht und sie werden auch von ihnen nicht gekannt. Dieser ganz neue Zugang, der ohne Vorgeschichte lebt und auch keine Nachgeschichte mehr bekommt, erlaubt es, einen unvoreingenommenen Workshop für beide Seiten zu finden und gemeinsam eine im Jetzt stattfindende Zeit zu gestalten, also einen zeitlich begrenzten Raum, der ein geschützter Raum ist. Sexualpädagog*innen kennen keine Vorinformation außer der, die die Personen von sich freiwillig preisgeben. Sie vergeben keine Noten. Sie werten nicht. Sie haben keinen Rotstift mit und das ist ein Symbol für viele Bereiche: Sexualpädagog*innen sind nicht Eltern, Erziehungsberechtige, Lehrkräfte, Sozialarbeiter*innen. Sie fällen keine Urteile, entscheiden nicht über Laufbahn und existenzielle Voraussetzungen. Diese Tatsache ist für alle Beteiligten der größte Vorteil, den es in diesen Workshops gibt. Es gibt keine wechselseitigen Ansprüche, die über die Zeit des Workshops hinausgehen. Und eben, weil es keine Abhängigkeiten gibt, können Fragen anders gestellt, Themen freier besprochen werden. Ein*e Sexualpädagog*in wird nicht rot, wenn jemand „ficken“ sagt, lacht nicht, wenn Wörter falsch ausgesprochen werden, urteilt nicht, wenn abfällige Bemerkungen fallen. Sexualpädagog*innen setzen Äußerungen, Worte, Werte in gesamtgesellschaftlichen, historischen, sozialen Kontext und klären über Zusammenhänge auf und das in der verlangten altersadäquaten Form.

Sexualpädagog*innen suchen sich ihr Thema ganz bewusst aus. Niemand plumpst aus der Universität und wird gezwungen, über Sexualität, Menstruation, Verhütung mit ihr*ihm unbekannten Jugendlichen, Kindern und Erwachsenen zu sprechen. Es ist ein frei gewählter Arbeitsbereich, ist also eine persönliche Entscheidung und viel spezifischer als beispielsweise Deutsch oder Sport zu unterrichten. Sexualpädagog*innen beantworten mit Freude Fragen zu körperlichen Funktionen, zwischenmenschlichen Beziehungen und Körperbildern. Das sind keine zufälligen Themen, die im Rahmen des als Beispiel erwähnten Deutsch- oder Sportunterrichts durchaus auftauchen können. Und weil diese Entscheidung eine so bewusste ist, sind Sexualpädagog*innen Expert*innen für ihr Thema. Zusammen mit ihrem Grundberuf, sei es die Sozialarbeit, die Sozialpädagogik, die Psychologie, die Behindertenarbeit oder anderes, haben Sexualpädagog*innen die Fähigkeit, sehr konzentriert und ohne Angst auf Fragen einzugehen.

Ein sexualpädagogischer Workshop, dauert er 2 Stunden, 3 Stunden oder den ganzen Tag, ist eine Ausnahme im Unterrichts-, WG- und Jugendzentrumsalltag. Er ist eine besondere Zeit für die Schüler*innen, Bewohner*innen, Teilnehmenden. Durch diesen besonderen Status ist nicht nur das Thema gründlich abgesteckt, er bietet auch einen Luxus, den es allzu oft nicht gibt bzw. nicht in dieser Form: Sexualpädagog*innen gestatten Diskussionen zwischen den Teilnehmenden nicht nur, sie ermutigen sie dazu, denn miteinander ins Gespräch zu kommen ist das wichtigste durch die Sexualpädagog*innen formulierte Ziel für die Teilnehmenden. Dafür wird in einem Workshop Raum gegeben, den es sonst aufgrund der eingeschränkten Zeitressourcen (beispielsweise wird in österreichischen Schulen größtenteils noch immer in einem 50 Minuten-Rhythmus unterrichtet) nicht gibt. Außerdem sind aufgrund der unbelasteten Beziehung zwischen Sexualpädagog*in und Gruppe Diskussionen viel freier, sie haben wie erwähnt keinerlei Konsequenzen, die über die Zeit des Workshops hinausgehen. Sie führen nicht zu schlechten Noten oder ähnlichem.

Hierfür ist es nötig, dass die Sexualpädagog*innen das Vertrauensprinzip verstehen, anwenden und verteidigen. Es ist mit dem Vertrauensprinzip in Psychotherapien, Beratungen und Ärzt*innen-Patient*innen-Gesprächen zu vergleichen und gilt für besonders sensible Bereiche (und die menschliche Sexualität ist ein ebensolcher Bereich, für den eine erhöhte Sensibilität absolut elementar ist). Das bedeutet in der Praxis, dass mit der pädagogischen Begleitperson (Lehrkraft, Sozialarbeiter*in, Sozialpädagog*in, Jugendbetreuer*in u.ä.) über die allgemeine Stimmung im Workshop gesprochen werden kann (und in unseren Augen auch soll), nicht jedoch über einzelne Aussagen einzelner Teilnehmer*innen. Diese Rezitation würde das Vertrauensprinzip empfindlich verletzen und kann großen Schaden anrichten. Das Vertrauensprinzip, das es beispielsweise in Beratungs- und Therapiesettings gibt, besagt, dass „nichts den Raum verlässt“. Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten, Beraterinnen und Berater sind daran auch rechtlich gebunden und können, wenn sie nicht besondere Gründe (beispielsweise Gefahr für Leib und Leben) vorweisen und nachweisen können, strafrechtlich belangt werden. Nun gibt es für Sexualpädagog*innen so eine rechtliche Bindung nicht, das Vertrauensprinzip aber, wie es hier formuliert wurde, ist Teil der professionellen Haltung.

Abschließend ist noch festzuhalten, dass die Situation für sexualpädagogische Workshops und sexualpädagogisch tätige Personen im österreichischen Schulsystem mehr als unbefriedigend ist. Da es weder eine allgemein zugängliche Liste tätiger Vereine noch eine fixe Budgetierung gibt, sind Schulen und Lehrkräfte bei der Wahl ihrer Mittel (und Expert*innen) auf sich gestellt. Nur so kann es passieren, dass es fundamentalistisch-ideologische Vereine gibt, die mit vorsätzlich falschen Informationen kostenlos in Schulen gehen und dort riesigen Schaden verursachen können. Daher schlagen wir folgende Vorgehensweise vor:

 

  1. Es braucht Akkreditierungen durch das Bildungsministerium. Nur vom Bildungsministerium akkreditierte Vereine sollen in Schulen gehen dürfen. Für diese Akkreditierung braucht es verbindliche Rahmenbedingungen und regelmäßige Kontrollen. Eine Akkreditierung muss in regelmäßigen Abständen erneuert werden und kann nicht unkontrolliert 20 Jahre oder mehr gelten.
  2. Es braucht eine gemeinsame Standesvertretung, die dem Bildungsministerium gegenüber Ansprechpartnerin für die sexualpädagogische Arbeit in Österreich ist. Gemeinsam mit der Standesvertretung können die Bedingungen für die Akkreditierung oder den Berufsbezeichnungsschutz für die Sexualpädagogik festgelegt werden.
  3. Es braucht eine für alle Schulen und außerschulischen Institutionen mit pädagogischer Verantwortung eine vom Bildungsministerium zur Verfügung gestellte Liste mit sexualpädagogisch tätigen Vereinen und Einzelpersonen.
  4. Um die Schulgeldfreiheit zu gewährleisten, muss das Bildungsministerium ein Budget für Sexualpädagogik zur Verfügung stellen. Im Gegenzug erklären sich die akkreditierten Vereine bereit, einen einheitlichen Tarif (der möglicherweise unter ihrem derzeitigen Tarif liegt) zu akzeptieren. Durch die einheitliche Bezahlung wird ein Entgeltkampf zwischen den Vereinen verhindert und gerechte Bedingungen für alle teilnehmenden Vereine geschaffen.
  5. Es darf auch weiterhin Vereine geben, die nicht vom Bildungsministerium akkreditiert sind. Sie dürfen aber nicht in Schulen tätig sein. So bleibt die Freiheit und Unabhängigkeit für andere Vereine erhalten.

 

Vorstand des Vereins pasiofeel – Lust und Liebe im Gespräch